Chris, Ira und Ralph

Chris, Ira und Ralph

Chris lenkte seinen Wagen vom Parkplatz der Eishalle, wo er sich gerade zusammen mit Ira und Ralph von Noam und David verabschiedet hatte. Ralph saß auf dem Beifahrersitz und Chris‘ Freundin Ira auf der Rückbank.

Und, glaubt ihr, Noam hat der Abend gefallen?“, fragte Ira.

Ralph schnaufte und lachte dann. „Sicher nicht!“

Warum nicht?“, erklang es erneut von der Rückbank.

Na, wenn man jemanden bei sich hat, einen guten Freund auch noch, der sich gerade frisch von seiner Freundin getrennt hat, meinst du, da ist es sinnvoll, hinter seinem Rücken hemmungslos herumzuknutschen und rumzumachen? Ich meine, ich kann dich und Chris ja verstehen, ihr seid gerade mal einen Monat zusammen, aber für Noam hättet ihr euch etwas zurückhalten können. Ihr wisst doch, wie er drauf ist!“

Chris verzog seinen Mund. „Du hast recht, Ralph, ich habe mir darüber einfach keine Gedanken gemacht ...“

Hovno“, fluchte Ira. „Das war bestimmt nicht schön mit anzusehen für Noam ...

Ralph drehte seinen Kopf nach hinten, „Scheiße! Ganz genau, Ira!“, sagte er und lehnte sich entspannt in seinen Sitz zurück. „Na ja, Noam fängt sich bestimmt bald wieder.“

 

Chris lenkte seinen Wagen über dunkle, matschige Wege. Die Eishalle befand sich schon deutlich außerhalb der Stadtgrenzen, ihr nächstes Ziel, die South Lake Bar, jedoch lag noch viel weiter weg. Tief in einem Wald und direkt an einem See gelegen. Chris‘ Wagen holperte über die viele Schlaglöcher hinweg und erreichte endlich die Bar.

Chris stieg als Erstes aus dem Wagen und überflog mit seinem Blick den verlassenen Parkplatz. „Haben die geschlossen oder was?“

Ira stieg neben ihm aus dem Auto heraus. „Quatsch! Ich hab extra einen Tisch reserviert für heute Abend.“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Mist, kein Netz!“

Moment“, sagte Chris, „ich hatte noch nie Probleme mit dem Empfang hier. Ich schau mal nach den Öffnungszeiten ...“

Und ich“, sagte Ralph trocken, „ich schau mal an der Tür nach! Wegen jeder Kleinigkeit zückt ihr euer Handy ... Schon mal was von Bewegen und Nachsehen gehört?“

Chris, der Ralphs Kritik überhört hatte, runzelte die Stirn. „Hm, komisch, kein Netz ...“

Hey, Leute, an der Tür hängt ein Geschlossen-Schild, aber drinnen brennt überall noch Licht!“, rief Ralph zu Chris und Ira herüber und gleich darauf klopfte er laut gegen die Eingangstür. „Hallo! Hallo!?“

Als Chris und Ira hinter Ralph auf die Veranda der Bar traten, hatte Ralph schon die Türklinke heruntergedrückt und die Tür einen Spalt weit aufgeschoben. „Offen.“ Er warf einen fragenden Blick über seine Schulter. „Wollen wir rein und nachschauen, was los ist?“

Ich weiß nicht …“, sagte Ira, „Wenn da doch geschlossen steht.“

Chris schüttelte den Kopf. „Wir haben reserviert ... Ich will wissen, was los ist.“

Ralph trat als Erstes ein und ließ dann seinen Blick schweifen. Die Bar direkt zu seiner Linken war unbesetzt, halbvolle Gläser standen auf dem Tresen, insgesamt sah die Theke sehr unaufgeräumt aus. Chris bog gleich nach dem Eintreten nach rechts ab, in den offenen Bereich, wo sich die Tische befanden.

Mann, sieht aus, als ob die alle geflüchtet wären ... Guckt euch das an!“ Chris hob ein halb aufgegessenes Steak in die Luft und hielt es in Ralphs Richtung. „Was ne Schande!“, sagte er noch, ehe er das Steak lieblos zurück auf den Teller schwang.

Ira legte ihre Arme um sich. „Leute, das ist gruselig. Es sieht ja wirklich so aus, als wären die alle geflohen. Überall halbvolle Teller, halbvolle Gläser, das Licht ist noch an … Shit! Selbst die Kerzen brennen noch!“

Ralph zuckte mit den Achseln „Die Besitzer, Ronal und Tamara, werden sicherlich noch hier sein. Soweit ich weiß, haben die hinten ihren Wohnbereich! Die werden uns bestimmt verraten, was hier los war.“ Ralph ging am Tresen entlang. Am Ende war eine Tür, die in den Flur führte, von dort aus – so hatte er es in Erinnerung – ging es neben den Toiletten auch zur Küche und zu den Privaträumen. „Leute, ich schau mal hinten nach, ja?“

Ist gut, Ralph“, rief Chris aus der hintersten Ecke des Raums.

Ralph bewegte sich über den Flur, ein seltsames Gefühl durchströmte seinen Körper. Er erinnerte sich zurück an den Moment, als er mit Noam auf dem Parkplatz der Eishalle gestanden und er am Himmel diese unzähligen Sternschnuppen gesehen hatte. Waren das wirklich Sternschnuppen?, fragte er sich. Ehe sein Verstand anfing, sich verrückte Theorien über den seltsamen Anblick des Meteoritenschauers auszumalen, schob er seine Gedanken beiseite. Er erreichte das Ende des Flurs, zu seiner Linken befand sich eine halb geöffnete Tür mit der Aufschrift „Privat“, auf der zu seiner Rechten stand „Küche“. Er wollte gerade an die Tür zum Privatbereich klopfen, als daraus dumpf eine Stimme erklang.

Lass sie gehen!“, sagte eine Männerstimme.

Ralph blieb wie versteinert stehen, sein Herz raste plötzlich.

Bleib stehen! Komm nicht näher!“, hallte es erneut durch den Spalt hindurch und Ralph erkannte, dass es Ronals Stimme war.

Ralph schaute sich um. Er hoffte, Chris zu sehen, aber der war offenbar noch immer im Essbereich beschäftigt. Einen Moment lang überlegte Ralph, ob er ihn holen sollte, doch er wischte den Gedanken beiseite. Er würde das schon alleine schaffen. Vorsichtig schob er die Tür auf. Ein weiterer Flur lag dahinter, wohnlicher gestaltet als der davor. Bereits der flauschige Teppich wirkte anheimelnder als die Dielen draußen. Ralph trat ein.

Ich flehe dich an, lass sie in Frieden!“, hörte Ralph Ronal wieder sprechen, er klang verzweifelt. Ralph presste die Zähne aufeinander und trat näher an die Tür heran, aus der die Stimme drang. Durch einen Spalt erkannte er Ronal, der mit dem Rücken zu ihm im Wohnzimmer stand. Er hatte etwas in der Hand, eine Pistole. Ralph schluckte hart. Auf wen zielte Ronal? Neugierig schob Ralph die Tür um ein paar Zentimeter weiter auf. Dann erkannte Ralph auch Ronals Frau Tamara, die Ronal in der offenen Küche gegenüberstand und mit einer Schrotflinte in der Hand auf ihren Mann zielte. Sie wirkte erschöpft und ausgelaugt, ganz anders, als es Ralph von ihr kannte.

Bitte, lass Tam gehen!“, sagte Ronal.

Ralph fragte sich, wer wohl die dritte Person sein mochte, zu der Ronal offensichtlich sprach, und warum Tamara verflucht noch mal ihre Waffe auf ihren Mann gerichtet hielt.

Tam, bitte, wenn du mich ...“

Ronals Satz wurde abgeschnitten durch einen lauten Knall, der seinen Ursprung in Tamaras aufruckendem Gewehr fand. Ronal beugte sich, als hätte er einen Faustschlag in die Magengrube abbekommen. Er sank zu Boden, während er aus seiner Waffe ebenfalls einige Schüsse abgab und dabei auch Tamaras Brust traf. Tamara stieß einen heiseren Schrei aus.

Ronal“, gurgelte Tam, das Gewehr glitt ihr aus der Hand und sie griff an ihre Brust. Sie keuchte, senkte ihren Kopf und entdeckte das viele Blut, das ihr aus der Brust quoll. Sie streckte ihre Hand nach Ronald aus, der angeschossen auf dem Boden kniete. „Ronal, ich ... ich liebe ...“ Noch bevor sie es aussprechen konnte, rauschte sie zu Boden.

Ralphs Augen weiteten sich, sein Atem stockte. Er wandte seinen Blick von der Szene ab und plötzlich donnerte Chris durch die Flurtür.

Ralph!“, schrie er, rannte zu ihm herüber und packte ihn mit zitternden Händen am Kragen. „Was ist passiert?“ Ralph starrte ihn nur mit einem leeren Blick an.

Chris ließ von ihm ab und stieß die Tür neben ihm auf. Chris‘ Blick legte sich zunächst auf Ronal, der blutüberströmt auf dem Boden lag. „Oh, Scheiße!“ flüsterte Chris, als er tiefer in den Raum hineintrat. Ronal keuchte und Chris warf sich vor ihm auf die Knie, seine Hände schwebten für einen Moment über seiner Brust, aus der scheinbar so unendlich viel Blut strömte, dann legte er seine Hand auf Ronals Stirn. „Ronal, bleib ganz ruhig, wir holen Hilfe!“

Töte es!“, röchelte Ronal.

Wa... was!?“

Ronal blickte an Chris vorbei und nickte in Richtung Küche. „Töte es!“, wiederholte er, dann schloss er seine Augen und hörte auf zu atmen.

Verflucht!“ sagte Chris und schaute in die Richtung, in die Ronal gedeutet hatte. „Oh, verdammt ...“, keuchte er. Seine Beine wurden weich und er plumpste kraftlos auf sein Gesäß, während er mit seinen Händen seine Haare raufte. Im Küchenbereich lag Tamara. Um sie herum Blut, überall Blut. Chris konnte seinen Blick nicht abwenden. Doch zwischen das Blut mischte sich auch eine schwarze Flüssigkeit. Chris schluckte und nahm einen tiefen Atemzug. Er stand auf und taumelte auf Tamara zu. Diese schwarze Flüssigkeit zog sich wie eine Spur über die Fliesen und verschwand hinter einigen Küchenmöbeln, die Wohnbereich und Küche trennten. Langsam schritt Chris weiter, um einen Blick in den verborgenen Teil zu werfen, zu dem sich die Spur der schwarzen Flüssigkeit zog. Chris erblickte zwei nackte Füße. Doch die Haut der Füße war schwarz, fast wie Leder, und glänzend. Er schritt weiter, vom Fußknöchel über die Knie bis zum Oberschenkel reichte nun sein Blickfeld auf diese ledrige Kreatur. Dort, wo sich normalerweise die Geschlechtsorgane des Menschen befinden sollten, war stumpf nichts, eine einfache glatte Fläche ledriger Haut.

Im Bauch des Etwas, das da lag, befanden sich drei Einschusslöcher, aus denen schwarzes Blut quoll. Plötzlich versuchte das Wesen, eines seiner Beine anzuwinkeln, doch war es zu schwach, um die Bewegung gänzlich auszuführen. Chris bewegte sich weiter und dann endlich erblickte er den Kopf des Wesens. Dem Gesicht fehlten Nase, Ohren und Mund. Durch zwei Schlitzte inmitten des Gesichts sog die Kreatur zischend Luft. Die Kreatur hatte nun auch Chris entdeckt und die beiden blickten sich starr an. Die Augen des Wesens waren von einem silbernen Schleier überzogen, es blinzelte, aber nicht mit Lidern, wie man sie von einem Menschen kennt, sondern mit unterschiedlich transparenten Häuten, die sich zuckend über die Augäpfel schoben. Plötzlich durchströmte Chris‘ Kopf ein brennender Schmerz. Er umklammerte seinen Schädel und ließ sich auf den Boden fallen. Träge verflog der Schmerz, während sein Kopf angestrengt versuchte, das Wesen, das da lag, einzuordnen. Zumindest wusste Chris nun, was er laut Ronal töten sollte. Er ging zu Ronal und nahm ihm die Waffe aus der Hand. Dann begab er sich zurück zur Kreatur, zielte auf ihre Brust und drückte ab.

Das ist doch Irrsinn!“, flüsterte er vor sich her.

Sternschnuppen“, sagte Ralph, der unbemerkt an Chris‘ Seite getreten war.

Chris blickte in Ralphs Augen, sie waren rot, er hatte wohl geweint.

Ralph schniefte, rieb sich kurz die Augen und festigte seine Stimme. „Das waren keine verdammten Sternschnuppen! Chris, lass uns abhauen! Schnell!“