Ivon und Nadine

Sidestory Ivone und Nadine

Ivone lenkte den geliehenen Wagen ihrer Eltern, neben ihr auf dem Beifahrersitz saß ihre Schwester Nadine.

Wie läuft es in der Schule und zu Hause?“, fragte Ivone, während sie ihre kleinere Schwester einen Moment lang beobachtete. Ganz schön reif geworden, die Kleine. Oder bilde ich mir das nur ein? Die bekommt ja schon Brüste!

Wie immer eigentlich. In der Schule gibt’s nichts Besonderes und zu Hause – na ja, du weißt ja, wie unsere Eltern sind.“ Nadine rollte mit den Augen. „Ich habe vorgestern mitbekommen, wie sie über deine Idee für heute diskutiert haben. Mama und Papa sind wohl immer noch stinksauer auf dich wegen des Unfalls ... die übertreiben es aber echt, oder? Ich meine, das ist jetzt schon ein Jahr her!“

Ja, aber da hab ich auch echt Mist gebaut! Ich bin nur so überglücklich, dass es dem anderen Fahrer schon wieder besser geht. Ich habe ihn neulich wieder im Krankenhaus besucht, wir haben viel geredet und ich denke, er kann mir meinen Fehler verzeihen.“

Das klingt doch spitze!“, sagte Nadine mit einem Lächeln, das aber schnell wieder verflog. „Warum tun sich dann unsere Eltern nur so schwer, das Thema zu begraben?“

Du kennst sie doch ... Na ja, zumindest durfte ich ihren Wagen heute leihen und darf dich endlich mal mit zum Schwimmen ins Ocean nehmen, ganz allein! Das ist doch was!“

Nadine lachte. „Ja, das stimmt! Und in der Uni, wie läuft‘s da?“

Ist anstrengend, aber ich hoffe, dass ich das irgendwie hinbekomme. Pass gut in der Schule auf, alles, was du da lernst, wirst du später brauchen.“

Klingst ja fast wie Mama ...“, sagte sie und schnaubte.

Ivone biss sich auf die Unterlippe. „Entschuldige“, säuselte sie, „ich weiß, unsere Eltern sind schon anstrengend genug, dann muss ich damit nicht auch noch anfangen ...“

Oooh ja!“, schnaufte Nadine. „Als ich neulich etwas geknickt von der Schule kam, meinte Mutter gleich, dass ich wieder mit den Antidepressiva anfangen sollte!“

Tu das bloß nicht! Egal, wie sehr dich Mama oder Papa dazu überreden wollen, bleib hart!“

Auf jeden Fall, ohne den Scheiß geht‘s mir tausendmal besser!“

Das ist meine Schwester!“ Ivone lächelte und wuschelte durch Nadines Haare.

Früher, als Ivone noch zu Hause gewohnt hatte und im Ort zur Schule gegangen war, stand alles noch viel schlimmer um Nadine. Immer wieder hatte sie diese Alpträume und diese Halluzinationen am Tage, in denen sie von Grauen Gestalten heimgesucht wurde. Der Alltag der Familie bestand darin, unzählige Psychologen und Ärzte zu besuchen, während Nadine die verschiedensten Pillen schlucken musste. Es war eine harte Zeit und Nadine schien durch die Medikamente irgendwann nur noch abwesend zu sein. Dann fing Ivone mit dem Medizinstudium an. Die ersten Monate an der Universität verbrachte sie damit, Kontakte zu knüpfen, die Nadine eine Hilfe sein mochten. Und allmählich konnte Ivone ihre Eltern überzeugen, die Medikamente langsam abzusetzen.

Kommst du denn mit den Träumen besser zurecht?“

Träume?“, Nadine schüttelte den Kopf. „Das sind mehr als nur Träume.“

Ivone sah besorgt zu ihr. „Du weißt doch ...“

Ja, ja, ich weiß! Erspar mir deine Medizinlogik! Ich weiß, dass mehr dahinter steckt. Falls es dich beruhigt: Ich habe zwar noch diese … Träume, aber ich komme im Moment ganz gut klar.“

Ganz sicher ist sie reifer geworden! Diese Ausdrucksweise!, dachte Ivone. „Okay, okay, schon gut, das reicht mir ja schon als Info! Und warum kamst du letztens so geknickt von der Schule? Ein Junge?“

Nadines Wangen färbten sich rot und sie grinste. „Ivone! Was für Themen haben wir heute?“

Ivone musste laut lachen. „Wusste ich‘s doch! Ist er süß?“

Am Ende der Straße sah Ivone schon die riesige gläserne Kuppel des Ocean.

Wir sind gleich da, dann kannst du mir alles über ihn erzählen!“

 

Im Ocean waren nur wenige Besucher. Die Schwestern hielten sich nicht lange mit dem Umziehen auf, keine zehn Minuten nach ihrer Ankunft tollten die beiden auch schon im Wasser herum, umgeben von der tropischen Atmosphäre.

Ivone genoss das angenehm warme Wasser, in das sie eingetaucht war, noch einen Moment, bevor sie an die Oberfläche zurückkehrte. Entspannt fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht, streifte den gröbsten Teil des Wassers ab und verbannte ihr langes braunes Haar in den Nacken bis zwischen die Schulterblätter. Sie blinzelte und ihr Blick fiel zufällig auf die bunten Röhren außerhalb der Kuppel. „Sag mal, Nadine, waren wir jemals auf der Rutsche!?“

Nadine runzelte die Stirn. „Unsere Eltern würden schon einen Kollaps bekommen, wenn ich auch nur in die Nähe der Stufen komme!“ Nadines Stimme wurde dünner. „Und außerdem, ich wollte die bisher auch gar nicht ausprobieren.“

Warum nicht jetzt, mit mir? Und ich schwöre dir, in dem Teil gibt es eine Passage, die wird dir gefallen!“, erwiderte Ivone.

Die soll ganz schön hart sein!“, sagte Nadine.

Na ja, harmlos ist sie nicht, aber auch nicht übertrieben schlimm oder so. Außerdem bin ich doch bei dir, komm!“ Ivone griff Nadines Hand und zog sie mit sich.

Okay, okay!“, sagte Nadine und ergab sich mit einem verkrampften Lächeln.

Mit platschenden Füßen rannten die beiden über die unzähligen feuchten Treppenstufen empor bis zum Röhreneinstieg.

Das sieht ganz schön düster aus“, sagte Nadine mit unsicherer Stimme, als sie in den Schlund am Einstieg hinunterblickte. Die ersten Meter des Schlauchs führten steil hinab.

Komm! Nadine, setz dich vor mich zwischen meine Beine. Genieß einfach die Fahrt!“

Nadine folgte der Anweisung, sie setzte sich vor Ivone zwischen ihre gespreizten Beine, lehnte sich zum Körper ihrer Schwester zurück und umschloss dabei Ivones angewinkelte Beine, um zusätzlichen Halt zu bekommen. Gerade als Ivone Schwung holen wollte, hallte eine Durchsage aus einem der vielen Lautsprecher.

Die Männerstimme aus dem Lautsprecher klang gehetzt. „Wir haben eine wichtige Mitteilung für all unsere Besucher. Neuste Meldungen im Fernsehen und Rundfunk bitten die Bevölkerung, ihre Wohnungen aufzusuchen und diese für unbestimmte Zeit nicht mehr zu verlassen. Grund dieser Mitteilung ist eine Art Meteoritenschauer. Die Meteoriten könnten groß genug sein, um die Erdoberfläche zu erreichen. Es besteht aber nur eine geringe Gefahr für Schäden. Wir bitten Sie, nicht in Panik zu verfallen, es besteht kein akuter Grund zur Besorgnis. Es sind lediglich Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die wir Ihnen hier nicht bieten können. Wir werden in dreißig Minuten schließen, weitere Informationen erhalten Sie im Rundfunk. Ich wiederhole: Es besteht kein Grund zur Panik. Bitte verlassen Sie das Gebäude! Wir schließen in dreißig Minuten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

Nadines Herz pochte kräftig und schnell. Ivone versuchte, sie zu beruhigen. „Du hast doch gehört, kein Grund zur Panik, wir nehmen noch schnell die Rutsche und dann machen wir uns auf den Heimweg, okay!?“

Nadine vertraute Ivone. „Viel länger, als wir für die Stufen benötigt haben, wird‘s ja wohl eh nicht dauern, oder?“

Denke ich auch“, bestätigte Ivone. „Na, dann mal los!“

Nadine nickte und Ivone legte ihre Arme um sie, dann begann die Fahrt auch schon. Die ersten Meter, schroff nach unten, überwand Nadine nur mit stockendem Atem. Erst bei der ersten scharfen Kurve japste sie nach Luft und hörte ab da gar nicht mehr auf zu lachen und zu schreien. Ihre Körper wurden durchgeschüttelt, eine Kurve folgte der nächsten. Der Wechsel zwischen grellem Licht und totaler Finsternis raubte den Geschwistern die Orientierung.

Dann rauschten sie in den durchsichtigen Teil. Es wurde ihnen vorerst der Schwung genommen und der nächste große Wasserstrom ließ auf sich warten. Die Zeit war wie eingefroren und Nadine blickte auf den daliegenden Sternenhimmel.

Wow!“, hauchte sie, „du hattest recht, mir gefällt‘s! Der Mond, die Sterne und ...“ Ihr Blick glitt zum Horizont, wo die Baumwipfel auf den Himmel trafen. „Ivone, was ist das!? IVONE!“

Es war ein gleißender Feuerball. Das Objekt preschte gerade über die Baumwipfel am Waldrand hinweg, die er in Flammen stehend hinter sich ließ und weiter auf die Rutsche zuhielt.

Wir müssen hier weg! Zu wenig Wasser hier, um Fahrt zu bekommen, durchzog es Ivones Kopf.

Ivone löste den klammernden Griff Nadines an ihren Schenkeln.

Was tust du?“ kreischte Nadine. „Lass das!“

Ivone ignorierte Nadines Worte.

Nadine! Greif meine Füße und stoß dich ab, sobald ich‘s sage!“

Ivone winkelte ihre Beine an, Nadine griff nach ihren Füßen. „Jetzt!“, schrie Ivone und stieß Nadine mit aller Kraft von sich weg. Nadine beschleunigte, schrie dabei Ivones Namen und ihre Stimme verlor sich. Ivone, abgebremst, versuchte mit aller Mühe Schwung zu bekommen.

Es dröhnte und die Röhre vibrierte, wackelte, bebte. Das Objekt, das gerade noch am Horizont war, schoss hindurch und bahnte sich unaufhaltsam einen Weg ins Innere der Glaskuppel, wo es mit einem lauten Grölen aufschlug. Ivone musste nun in die andere Richtung, zurück nach oben. Das entstandene Loch würde sie zwanzig Meter in die Tiefe spucken. Verzweifelt suchte Nadine in der steilen, feuchten Kunststoffröhre nach Halt, doch ihre Finger rutschten immer wieder von der glatten Fläche ab. Sie stöhnte, schluckte Wasser, dem sie auf dem Bauch liegend ausgeliefert war. Die Röhre rumorte einmal mehr, und senkte sich noch steiler dem Boden entgegen. Ivone beschleunigte, der Möglichkeit beraubt, bremsen zu können, immer weiter dem Abgrund zu. Doch ehe Ivone über das kaputte Röhrenstück hinaus rutschte, knallte sie gegen einen eisernen Träger, der sich durch die Röhre gebohrt hatte. Der Aufprall war schmerzhaft, so beißend, dass Ivone ihre Besinnung verlor. Das Bild ihrer lächelnden Schwester war das Letzte, was sie in ihrem Kopf aufflackern sah, ehe alles um sie herum dunkel wurde.

 

Die Zeit floss dahin, wie das Wasser, das sich seinen Weg an ihrem schlappen Körper vorbei bahnte. Mit einem Fingerzucken erwachte Ivone aus ihrer Bewusstlosigkeit, trotz hämmernder Schmerzen beim ersten Lichteinfall in ihren Augen zwang sie sich, sie geöffnet zu halten. Sie fand sich am Eisenträger wieder. Bauch und Brust schmerzten. Der Wasserstrom war versiegt, nur ein dünnes Rinnsal tröpfelte an der Bruchstelle in die Tiefe. Sie musste es nach oben versuchen. Ivone krabbelte los. Die Röhre schwankte bei jeder schnellen Bewegung bedenklich, sodass sie sich zur Ruhe zwang, um die Konstruktion nicht zum Einsturz zu bringen. Es war mühsam, den Tunnel aufwärts zu klettern, an manchen Stellen war es so steil, dass das wenige Wasser ausreichte, sie einige Male abrutschen zu lassen.

Schließlich erreichte sie die tiefdunkle Passage. Von hier aus ging es fast senkrecht nach oben, hinauf zum hellen Neonlicht außerhalb der Rutsche. Mit den Beinen an der einen Seite der Röhre presste sie ihren Rücken an die andere. Stück für Stück näherte sie sich dem Einstieg. Wieder rumorte das Bauwerk und diesmal schien es ernst zu werden, denn obwohl Ivone innehielt, schwankte die Röhre immer stärker. Irgendwo in der Nähe knarrte es beängstigend laut. Ivone nahm all ihre Kraft zusammen und kam dem Einstieg schon zum Greifen nahe. Dann krachte es und der Tunnel schaukelte sich in die Tiefe, Ivone packte die Stange des Einstiegs in letzter Sekunde. Ein Teil der Rutsche hämmerte auf ihr Bein, ehe es sie zu Boden rauschte. Ihr Bein schmerzte zwar, aber das hinderte sie nicht daran, sich endlich in Sicherheit zu bringen.

Ivone verschnaufte nicht lange und hastete die Stufen hinab. Sie durchforstete jeden Winkel der Kuppel, ließ keine Nische übrig, in die sie nicht hineinschaute oder zumindest hineinrief, doch Nadine, ihre kleine Schwester, war nicht zu finden.

Ivone begann zu frösteln. Sie ging in die Umkleideräume und zog sich an. Als sie die Uhr umlegte, bemerkte sie, dass fast vier Stunden seit ihrer Ankunft im Ocean vergangen waren. Sie musste mindestens zweieinhalb davon ohnmächtig gewesen sein. Vielleicht hatte Nadine sich inzwischen in Sicherheit gebracht.

Ivone beschloss, sie draußen zu suchen, und lief zum Ausgang. Verschlossen. Ratlos sah sie sich in der Eingangshalle nach weiteren Türen um. Keine der offenen führte sie nach draußen, immer wieder landete Ivone entweder im Vorraum oder im Badebereich. Sie begann, unschlüssig umherzustreifen.

Einmal mehr kam sie dabei an der Einschlagstelle des Meteoriten vorbei und erst jetzt sah Ivone, dass es gar kein Meteorit war. Das Objekt hatte sich in einen der Pools gegraben, Wasser flutete den vier Meter tiefen und ebenso breiten Krater. Metallisch funkelnde Fetzen, einige fein und andere brustbreit, sammelten sich am Grund des Pools, wo sich auch eine Wolke violett-schwarzer Flüssigkeit angesammelt hatte. Einer der Büsche am Rand des Pools raschelte. Ein bedrohliches Gefühl breitete sich in Ivone aus und sie selbst suchte sich das nächstliegende Gebüsch, um sich zu verstecken. Dann hörte sie ein dumpfes rhythmisches Getrommel hinter sich, sie drehte sich danach um. Ihr Blick fiel auf die gläserne Kuppelwand, woher das Geräusch erklang.